Das Bild erschreckte sogar den Migrationsminister. José Luis Escrivá ist qua seines Amtes Leid gewöhnt. Doch die Lage auf Gran Canaria machte dem Besucher aus Madrid umgehend klar, warum die Kanarischen Inseln auf seine kurzfristige Absage wenige Wochen zuvor so verschnupft reagiert hatten.
“Hier erkennt man die Realität”, sagte der Mann, der vor rund einem Monat seinen Besuch auf den Kanaren wiederholt abgesagt hatte. Doch diesmal ließ sich der Präsident der Kanarischen Inseln nicht abspeisen. Ángel Víctor Torres blieb penetrant. So sehr, dass Escrivá nun doch nach Gran Canaria kam. Und dort bot sich dem Minister am Hafen von Arguineguín ein der Beschreibung entsprechendes Bild.
Bereits während des Lockdowns waren viele Migranten auf den Kanaren angekommen:
Vor Ort sprach Escrivá schließlich aus, was den kanarischen Behörden längst klar war: Zur Krise Anfang der 2000er-Jahre hatte es bereits eine Flüchtlingswelle gegeben. Doch diesmal ist die Lage ernster. Und erneut trifft sie – diesmal wegen Corona – mit einer sozioökoniomischen Krise auf dem Archipel zusammen, was die Geduld der Anwohner zusätzlich auf eine harte Probe stellt.
Im September, als der Minister keine Zeit für einen Besuch gefunden hatte, waren 2148 Migranten auf dem Archipel angekommen – und damit mehr Hilfesuchende, als im gesamten Jahr 2008 zusammen. Ausgerechnet als der Migrationsminister vor Ort ankam, erreichten erneut mehr als 1000 Hilfesuchende nach lebensgefährlicher Überfahrt in ihren Holzbooten die Inseln. Und Escrivá erkannte schnell, dass die Lage prekär ist.
Der Minister zeigte sich “beeindruckt” von dem, was er am Arguineguín-Kai sah. Schließlich verstand er als oberster Botschafter zum Thema, dass er in Madrid für Hilfestellung werben muss: “Ich habe aus humanitärer Sicht einen Eindruck von dem Phänomen bekommen, mit dem wir uns mit großer Traurigkeit auseinandersetzen müssen.”
“Es ist schlimm, wie die Migranten hier ankommen. Wir haben gesehen, wie sie in einem Rettungsboot angekommen sind, desorientiert und hilflos.” Auf Teneriffa habe er gesehen, in welchem Zustand sie die Inseln erreichen und “wie schwierig diese Lebenserfahrung ist und was es bedeutet, nicht zu wissen, wie die eigene Zukunft aussehen wird”, sagte Escrivá.
📽️ El presidente de #Canarias, @avtorresp, y el ministro de @inclusiongob, @joseluisescriva, en el dispositivo de atención a los migrantes a su llegada al Muelle de Arguineguín en Gran Canaria pic.twitter.com/V3JIQeWSSp
— Presidencia GobCan (@PresiCan) October 9, 2020
Er wolle nun in Madrid dem Rest der spanischen Regierung mitteilen, wie schlimm die Lage sei. Und er wolle dafür werben, dass die Koordinierung zwischen den Ministern verbessert werde. Damit solle nicht nur auf das Migrationsphänomen allgemein reagiert, sondern auch besser für die Betreuung der Betroffenen gesorgt werden.
“Wir müssen eine Lösung finden, wie ankommende Migranten aufgenommen werden”, sagte der sichtlich betroffene Minister: “Und Standards einhalten, die denen ähneln, die beispielsweise auf Teneriffa existieren.” Es dürfe nicht ignoriert werden, dass die derzeitige Situation von Arguineguín sich auf anderen Inseln wiederholen könne.
Mehr als 700 Migranten erreichen die Kanaren an einem Tag
Allein am Freitag waren 423 Menschen in vier Kanus auf Teneriffa angekommen. 199 Personen erreichten in zwölf Booten Gran Canaria, während auf Lanzarote in fünf Booten 73 Personen ankamen. Auf Fuerteventura waren es sechs weitere Menschen in einem Boot. Und diese Zahlen sind nicht endgültig, da die Inseln von weiteren Booten erreicht wurden, die erst nach ihrer Ankunft entdeckt wurden.
Die 22 Boote, die offiziell auf den Kanaren registriert wurden, brachten in der Kürze der Zeit eine bisher beispiellose Zahl an Hilfesuchenden binnen eines Tages auf den Archipel. Sie entspricht etwa einem Viertel aller im Vorjahr angekommenen Flüchtlinge. Und möglicherweise brauchte es genau dieses Extrem in genau dem Moment des Minister-Besuchs, um Madrid dazu zu bewegen, sich EU-weit für die Kanaren einzusetzen. Immerhin ließ sich Escrivá am Ende sogar zu einer kleinen Zusage hinreißen. Der Minster versprach “eine umfassende Antwort des Staates”.
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