Warum treten so viele junge Flüchtlinge die lebensgefährliche Überfahrt auf die Kanarischen Inseln ohne Papiere an? Auf den Kanaren zeigt sich in diesen Tagen, warum der Begriff des “alleinreisenden minderjährigen Migranten” so weit verbreitet ist.
Wer als Minderjährig eingestuft wird, hat große Chancen, im Land zu bleiben. Während erwachsenen Migranten die Rückführung droht, wenn ein Asyl-Status ausbleibt. Entsprechend viele junge Flüchtlinge geben an, nicht volljährig zu sein. Und das überfordert die Behörden zunehmend.
Geht ein Migrant auf den Kanarischen Inseln von Bord eines Flüchtlingsboots und gibt an, minderjährig zu sein, muss er das nachweisen. Gibt es keine Papiere, beginnt ein meist monatelanger Bürokratie-Prozess. Denn sollte das Gegenteil nicht bewiesen werden, sind die Behörden für die Person verantwortlich. Das versuchen diese abzuwenden. Und starten daher einen medizinischen Prozess.
Das passiert mit minderjährigen Migranten auf den Kanaren
Für den Nachweis des Alters ohne Papiere wird ein Knochentest durchgeführt. Denn als starker Indikator für das Alter eines Menschen bis etwa 17 Jahre, gilt die Entwicklung der Handwurzelknochen. Auch andere Hand-Knochen sowie deren Abstände voneinander gelten als starkes Merkmal zur Altersbestimmung.
Während ein neugeborener Mensch praktisch gar keine Handwurzelknochen aufweist, hat erst ein Erwachsener ein voll ausgebildetes Handgelenk mit allen acht Handwurzelknochen. Für die Phasen dazwischen gibt es Erfahrungswerte, mit denen das Alter bestimmt werden kann.
Als großer Nachteil dieser Praxis gilt, dass es viele Indizien gibt, anhand derer Ärzte das menschliche Alter einschätzen können. Doch sie alle sind lediglich Schätzungen. Denn jeder Mensch alters anders. Nicht zuletzt Krankheiten können ein deutlich verlangsamtes, aber auch ein stark beschleunigtes Knochen-Wachstum auslösen.
Jüngster Migrations-Strom überfordert Ärzte auf den Kanaren
Auf den Kanaren sind ebenfalls Ärzte für die Altersbestimmung per Knochentest verantwortlich. Doch durch den Anstieg ankommender Flüchtlings-Boote seit August, sind die Mediziner überfordert. Und am Sonntag kamen rund 1500 weitere junge Migranten an den Küsten der Kanarischen Inseln an, wie deren Präsident Fernando Clavijo bestätigte.
Während der Wartezeit auf den Knochentest und dessen Ergebnis bleiben die Inseln verantwortlich. Und damit beginnt ein Schwebezustand, während dem die Autonome Gemeinschaft als Vormund zuständig ist.
Dieser Status zwingt die Verwaltung, die Betroffenen in Aufnahmezentren zu behalten. Zugleich können sie jedoch nicht in die Schule geschickt oder in Integrations-Programme aufgenommen werden. Mit jeder weiteren Verzögerung wird die Summe der Betroffenen größer – und mit ihr begleitende Problematiken.
Kanaren-Flüchtlinge: Volljährigen droht die Rückführung
Inzwischen warten Betroffene vier bis fünf Monate auf die Tests. Die Dienste seien überfordert, sagte Clavijo. Und selbst wenn die Ärzte die Altersbescheinigung ausgestellt haben, muss die Staatsanwaltschaft das endgültige Urteil fällen.
Geht dies zu Gunsten des Antragstellenden aus, wird dieser dem Kinderschutz überstellt. Wird dem Migrant hingegen die Volljährigkeit attestiert, wird er als irregulärer Einwanderer behandelt, dem die Rückführung droht.
Lippenbekenntnisse: Madrid scheut Flüchtlings-Konfrontation mit anderen Regionen
Allein am Wochenende kamen 25 weitere Boote an den Küsten der Inseln an. Mit ihnen erreichten 128 mutmaßlich Minderjährige die Inseln. Etwa 3000 weitere warten dort bereits.
Laut Clavijo sollten 700 von ihnen durch die spanische Zentralregierung umverteilt werden. Doch in Madrid wird die Konfrontation mit den anderen Autonomen Gemeinschaften gescheut. Diese müssten gezwungen werden, die Migranten aufzunehmen. Und bisher bleibt die entsprechende Ankündigung tatenlos.
Für den Kanaren-Präsident ist das Ministerium für soziale Rechte unter der Leitung von Ione Belarra auf dem spanischen Festland derzeit nicht zu sprechen. Und so mischten sich bereits die Bischöfe der Kanarischen Inseln mit einer öffentlichen Bitte um Solidarität an die übrigen Regionen ein. Sie sagten, dass die Kanarischen Inseln die aktuelle Lage “nicht alleine bewältigen können”.
Kanaren-Migration: Nach Teneriffa ist auch El Hierro überfordert
Auf El Hierro kamen in den vergangenen Tagen 2355 Migranten an. Laut Clavijo sei die Versorgung “völlig zusammengebrochen”. 385 von ihnen sind bereits umverteilt worden. Doch auch die aufnehmenden Inseln kommen derzeit nicht mehr nach.
El Hierros Präsident Alpidio Armas warf Clavijo am Sonntag “Untätigkeit” seines Sozialministeriums vor. Die Insel könne 50 Minderjährige unter menschenwürdigen Bedingungen unterbringen. Doch schon jetzt seien 230 vor Ort. Eine Insel, auf der nur 11.154 Menschen leben, könne nicht aus dem Stand 2355 weitere Personen unterbringen.
Armas sagte dass er den Jugendlichen eine Unterkunft und Essen bieten wolle. Doch Zugang zu Bildung und Integrationsprogrammen sei unmöglich: “Das übersteigt unsere Kapazitäten – so gut wir es auch meinen.”
Kanaren-Präsident zur Migration: “Madrid hat eine andere Sicht auf die Angelegenheit”
Clavijos Regierung hatte bereits am Wochenende zunächst 280 Menschen nach Teneriffa umverteilt. Am Folgetag wurden weitere 584 Flüchtlinge mit einem von der Kanaren-Regierung gecharterten Schiff auf die Nachbarinsel gebracht.
“Ich weiß nicht, was sonst noch passieren muss, damit die Zentralregierung sich um die Kanarischen Inseln kümmert”, schimpfte Clavijo am Wochenende und ergänzte resigniert: “Aber Madrid hat eine andere Sichtweise auf die Angelegenheit.”
Kanaren mit Flüchtlings-Situation überfordert, Spanien spricht von temporärem Phänomen
Spaniens Innenminister bestätigte das, indem er mit dem Hinweis reagierte, dass Spanien über die “notwendigen personellen und materiellen Mittel” verfüge, um der Situation auf den Kanaren zu begegnen. Der Politiker beschwichtigte dann jedoch, dass die Zunahme der Schiffe ein temporäres Phänomen sei und es eine “echte Politik” der Zusammenarbeit und Koordinierung mit dem Senegal und Mauretanien gebe, um Flüchtlingsboote an ihren Herkunftsorten zu stoppen.
Vor Ort sind die Betroffenen entsprechend resigniert. Zuletzt wurde das Rote Kreuz mit einem mobilen Feldlazarett aktiviert. El Hierros Präsident Armas spricht von “endlosen Schichten” in den Gesundheitszentren der Insel. Statt Durchhalteparolen und Beschwichtigungen werde aus Madrid konkrete Hilfe in der Gegenwart benötigt. Konkrete Hilfs-Ankündigungen für den Archipel blieben jedoch weiter aus.
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